Johann Gottlob Geiger wurde am 27. Februar 1843 in Magstadt geboren und trat ebenfalls nicht in die Fußstapfen von seinem Vater, sondern erlernte den Beruf des Schreiners. Da er auch in der Zeit des Wandels der Magstadter Textilindustrie aufwuchs, ist wohl auch hier ein engerer Bezug zu den Korsettfabriken zu sehen. Neue Maschinen und industrielle Webereien entstanden und stellten die traditionellen Weber vor neue Herausforderungen. Die komplizierten Maschinen und Webstühle mussten repariert und gewartet werden, so dass auch hier ein Schreiner seinen Lebensunterhalt verdienen konnte.
Mit der Heirat von Katharina Wilhelmina Rüth (* 18.12.1846 Heimsheim; † o. A.) am 21. Otober 1872 ist nicht ganz gesichert, ob die Familie weiterhin in Magstadt wohnhaft war, da diese in Heimsheim statt fand. Es finden sich auch danach keinerlei Nachweise in den Kirchenbücher zu Kindern oder weitere Ereignisse in Magstadt, so dass wir aktuell nicht wissen, wo dieser Famzweig weitergeführt wurde.
Dass er noch im hohen Alter in Magstadt beruflich oder ehrenamtlich aktiv war, wissen wir nur aus einer Quelle. Wir finden nämlich seine Unterschrift unter einer amtlichen Bescheinigung des dortigen Bürgermeisteramtes, dass ein eingetragener Verein in Magstadt den Namen »Sozialdemokratischer Verein Magstadt« führen darf. Er ist dort als Kassierer eingetragen und dürfte daher auch Mitglied dieses Vereins gewesen sein. Aus heutiger Sicht würde man von einer frühen Form der Gewerkschaft sprechen, die durch den Verein ausgeübt wurde.
Nach dem Ende der Korsettweberei siedelten sich um 1900 andere Betriebe in Magstadt an. So gibt es eine Drahtflechterei, die ehemalige Weber einstellt, aber auch kleinere Jacquardwebereien1) und Strumpfwarenfabriken entstehen wieder. Außerdem machten sich viele ehemalige Korsettweber als Schneider selbständig. Allein in Magstadt waren es vierzig! Und da in den Fabriken vielerorts Automatisierung und Dampfmaschinen Einzug hielten, war der Boden für Gewerkschaften bereitet, die ebenfalls einen Aufschwung erlebten - Magstadt und auch die Geigers mittendrin!
Unter den auswärtigen Korsettwebern waren sicher auch solche, die die heißen politischen Diskussionen um die Gründung einer sozialdemokratischen Partei und um die Idee der Gewerkschaftsgenossenschaften mit nach Magstadt brachten. Von einem Weber, der 1874 aus Reutlingen kam, wissen wir genau: Er hieß Jacob Roller und organisierte hier Versammlungen mit Stuttgarter Sozialdemokraten, hielt selbst Vorträge hier und im ganzen Oberamt Böblingen.
Von Jacob Roller, dem unermüdlichen Kämpfer für soziale Belange, ist ein Brief im Magstädter Archiv erhalten, den er 1878 an den Lammwirt Kienle geschrieben hat, weil ihm von seinem Werkführer Schmidt vorgeworfen worden war, dass er sein Geld verschleudere. Dieser Brief ist in seiner präzisen Darstellung der finanziellen Situation eines Korsettwebers ein ganz wichtiges, fast einzigartiges Dokument und es soll kurz daraus zitiert werden. Roller schreibt:
»Untersuchen wir hier nun das heidenmäßige Einkommen.
Also ich arbeite bei Fr. Schmidt 4 Jahre lang. Die Löhne haben sich wie folgt reduziert. Bei den meisten sorten Corsetts ist um 25 Prozent abgeschlagen worden. Von Sorten wo ich früher 58 Pf. hatte, hat man jetzt noch 44 Pfennig. Während nun ein Arbeiter vor 5 Jahren noch 500 bis 600 Mark verdienen konnte, verdient er jetzt noch 400 Mark. wie lässt sich da nun aber flott leben? 5 Köpfe und selbstverständlich auch Mäuler haben 400 Mark jährlich.
Wovon abgeht für Hauszins 50 Mark
Holz, Steuer, Licht 30 Mark
Kleidung, Weißzeug, Schuhe usw. 50 Mark
bleibt zum Leben übrig 270 Mark
Auf jeden einzelnen Kopf jährlich 54 Mark, das sind täglich 15 Pfennig.
Welch ein lustig Leben mit 15 Pfennig, nicht wahr!
Und immer wieder wird gesagt: Die Konkurrenz sei schuld an den schlechten Löhnen. Also nicht wahr, der schuldige Teil liegt bei denjenigen welche vom Ministertisch die Parole ausgegeben haben: Drückt die Arbeitslöhne herab, ihr zahlt zu hohe Löhne.
Zum Schluß aber will ich den Vorschlag machen: gebt mir aus der Gemeindekasse 1200 Mark - so wandere ich nach Amerika aus und ihr braucht euch meiner nicht mehr zu schämen. Das Leben ist mir bei dieser Lage geradezu zur Hölle geworden.«
Unermüdlich argumentierte er gegen die völlige Rechtlosigkeit aller Arbeiter in dieser harten, frühkapitalistischen Gesellschaft und für gewerkschaftliche Organisationen; er selbst wurde bald zum Vorsitzenden des Magstadter Fachvereins der Corsettweber gewählt. Vom Staat forderte er eine Politik wenigstens minimaler sozialer Absicherung. Wir haben hier z. B. noch den 12- bis 14-stündigen Arbeitstag an 6 Tagen in der Woche!
In dieser Situation kam es nun zu Konflikten, die auch Magstadt erschütterten. Wir sehen hier, wie sich in dieser Zeit innerhalb einer Gemeinde scharfe, gegensätzliche politische Positionen herausbildeten - um die Kirche herum die konservativen Bewahrer, auf der anderen Seite die fortschrittlich-demokratisch Orientierten, die auf eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse hofften.
Somit durfte einer unserer Vorfahren in den turbulenten Zeiten der Korsettweber in Magstadt miterleben und als Gewerkschaftler war er mitten drin im Gesellschaftskampf zwischen Arbeitgeber und Arbeiter
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Fußnote:
1) Webereien, die bevorzugt den Jacquardwebstuhl einsetzen. Dieser stellte einen von Joseph-Marie Jacquard weiterentwickelten Webstuhl dar.
Bildnachweis:
[1] Klaus Philippscheck, Bescheinigung für den »Sozialdemokratischen Verein Magstadt«, ausgestellt am 14. Oktober 1906; Webseite Gemeinde Magstadt; 20210; https://www.magstadt.de/fileadmin/Dateien/Dateien/900_Jahre/MagstadtKorsett__PPTminimizer_.pdf