Mein Vorfahr Jakob Friedrich Geiger, Sohn von Johann Simon Geiger und Maria Barbara Eberle, machte den Schritt vom einfachen Bauern zum Handwerker. So übte er den Beruf des Webers aus, genauer gesagt spezialisierte er sich als Korsettweber1).
Die Weber in Magstadt sowie in den angrenzenden Ortschaften arbeiteten oft in kleinen Werkstätten, die ihren Wohnhäusern angegliedert waren. Der Webstuhl, das Herzstück der Werkstatt, war ein kompliziertes Gerät, das die Herstellung feiner und strapazierfähiger Stoffe ermöglichte. Die Weberei war harte Arbeit und oft schlecht bezahlt, bot aber vielen Familien ein Auskommen.
Ändern sollte sich das erst, als die Industrialisierung auch in Magstadt Einzug hält und es als eine regionale Hochburg der württembergischen Korsettweberei wurde. Die Korsettwebereien benötigten viele Weber und fanden diese in Magsatdt und Umgebung daher reichlich. Auch Jakob Friedrich dürfte den ersten Aufschwung mit den Korsettfabriken in Magstadt genutzt haben und sich als Korsettweber sein Geld verdient haben. Leider ist nicht bekannt, in welcher der Korsettfabriken er gearbeitet hat. Aber die Arbeitsbedingungen dürften nahezu überall gleich gewesen sein.
Hochburg der württembergischen Korsettweberei
Magstadt zeigte sich als ein Ort, der durch seine damalige gute verkehrstechnische Lage zwischen Stuttgart und Calw und durch seine sehr hohe Zahl risikobereiter Baumwollweber für neue Unternehmen interessant war. Das Ortsarchiv weist über 100 Namen selbstständiger Weber im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts auf. Dies lässt auf eine arme, aber fleißige und disziplinierte Handwerkerschaft schließen.
Der Franzose d'Ambly baut in der heutigen Alten Stuttgarter Straße eine große Fabrik, in der Korsetten gewebt werden, die den berühmten französischen Corselets Konkurrenz machen sollen. Auch wenn d'Ambly ökonomisch scheitert, war die Qualität der neuen Produkte so gut, dass andere, international erfolgreiche Unternehmer nach stoßen. In wenigen Jahren werden in Magstadt drei weitere Korsettfabriken gebaut, die Namen tragen, die in der württembergischen Industriegeschichte berühmt sind: Ottenheimer, Rosenthal, Guttmann und Einstein.
Eine Besonderheit war zum Beispiel, dass die Fabrikbesitzer ihr Risiko nach unten abzusichern versuchten. So findet man viele Korsettweber in der Gewerbesteuerliste wieder! Sie sind auf dieser Liste, weil sie selbstständig sind und Gewerbesteuer zahlen müssen. Sie sind zwar faktisch Fabrikarbeiter, aber nicht arbeitsrechtlich! Und das heißt natürlich, dass jeder einzelne dieser Weber ein selbstständiger Kleinunternehmer ist, dem es passieren kann, dass er dann, wenn er morgens in die Fabrik kommt, vom Werkführer keine Arbeit zugewiesen bekommt und wieder nach Hause gehen kann. Und natürlich nichts bezahlt bekommt.
Dies verweist auf eine äußerst komplizierte Struktur von Lohnwebern, angestellten Webern, selbstständigen Webern, Agenten, Accordanten, Werkführern, Kleinfabrikanten, Verlegern, Großfabrikanten, Aktiengesellschaften, usw. Und eine Zunft, die da früher dem kleinen Meister geholfen hatte, gab es nicht mehr – in seinem Modernisierungsprozess waren alle Zünfte 1862 im Königreich Württemberg endgültig abgeschafft worden.
Von Jakob Friedrich Geiger wissen wir, dass er schon 1870 als Beruf »Corset[t]weber« bei seiner Hochzeit angab. Da war er gerade 24 Jahre alt und die Korsettfabrik von d'Ambly noch die einzige in Magstadt. Im Jahre 1875 brannte diese ab und eine fast 20-jährige stabile Industrie zeigte die erste Risse. Außerdem gab es Ausschreitungen einiger nicht mehr beschäftigter Weber, da mit dem Brand auch 80 Webstühle mit verbrannt waren.
Nichtsdestotrotz kämpfte Jakob Friedrich sich durch und durchlebte alle Höhen und Tiefen der damaligen Textilindustrie. Bis zum Jahre 1890, als quasi alle Korsettfabriken in Magstadt auf Steueranschlag »0« gesetzt sind und somit aufgehört haben zu existieren. Dadurch das die Korsettweber selbständig sind, gibt es keinerlei Arbeit mehr für sie.
Ob dann Jakob Friedrich mit nach Stuttgart zog, um Arbeit zu finden, wissen wir nicht. Auch dort war die Situation nicht besser, den die Korsettfabriken sind ja nicht nur in Magstadt in Existenzkrise geraten, sondern im gesamten Königreich Württemberg.
Die Situation der vielen arbeitslos Gewordenen in Magstadt ist nur noch ganz schwer weiter verfolgen. Sie tauchen in den Gemeindeunterlagen nicht mehr als Gruppe auf. Da müsste nun eher Familienforschung getrieben werden, um zu erkennen, wer da eventuell in die Großstadt gezogen oder gar ausgewandert ist; wer in einem anderen Beruf untergekommen ist, wer mit bescheidenen Hilfsarbeiten überlebte, usw. Über den Jakob Friedrich Geiger wissen wir nur, dass er auch in Magstadt verstorben ist. Daher muss man davon ausgehen, dass er den Beruf gewechselt hat oder sich mittels Hilfsarbeiten den Unterhalt verdiente.
__________
Fussnote:
1) Als Korsett (von französisch corset, ursprünglich Diminutiv von altfr. cors »Körper«) wird ein steifes, zur Unterkleidung gehöriges Kleidungsstück bezeichnet, das eng am Oberkörper anliegt und diesen der jeweils geltenden Modelinie entsprechend formen soll. Daher veränderte das Korsett im Verlauf der Jahrhunderte mehrmals Form und Zuschnitt; die Versteifungsmethoden wandelten sich mit dem Fortschritt der Technik. Im Laufe der Geschichte wurde das Korsett im deutschsprachigen Raum häufig als Mieder, Schnürbrust oder Leibstück bezeichnet; erst im 19. Jahrhundert setzte sich die Bezeichnung Korsett durch. [1]
2) Ein Akkordant ist generell ein Arbeiter, der im Akkord arbeitet.
Quellen:
[1] Div. Autoren, Wikipedia (DE), »Korsett«,Wikipedia (DE), Feb. 2024. Adresse: https://de.wikipedia.org/wiki/Korsett
Bildnachweise:
[1] K. Philippscheck, Korsettwebstuhl, Webseite Gemeinde Magstadt, Juli 2010. Adresse: https://www.magstadt.de/fileadmin/Dateien/Dateien/900_Jahre/MagstadtKorsett__PPTminimizer_.pdf
[2+3] H. Zwietasch, Korsett, Landesmuseum Württemberg, Stuttgart, Okt. 2023. Adresse: https://bawue.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=402