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Auf Spurensuchen bei den Legenden (Teil 4)

Über meine Altmutter  Viktoria Rieger gibt es schon einige Geschichten zu erzählen. Einige davon haben in den letzten Teilen dieser Serie ihren Platz gefunden. Eine weitere muss ich mit diesem Beitrag hinzufügen. Die Bedeutung dieses Themas und die Schwerpunkte, die es setzt, haben sich erst im Laufe der Beschäftigung mit den Jenischen so deutlich herauskristallisiert und sind mir erst in letzter Zeit so richtig bewusst geworden.

 Viktoria Rieger wurde in der Familie als energische Frau beschrieben, die ihre Meinung durchaus laut und deutlich äußern konnte. Gegen Ende ihres Lebens wurde sie wohl etwas seltsam und wurde in eine Landesfürsorgeanstalt eingewiesen. Eine entsprechende Aktennotiz scheint das Ganze zu bestätigen und spiegelt auch die familiären Verhältnisse recht deutlich wider - jedenfalls wenn man die Akte mit dem damals verfügbaren Wissen betrachtet1).

Akte Viktoria Rieger [1]

Auch da man sich erzählte, dass sie in ihren letzten Lebensjahren doch etwas verwirrt war, erscheint eine notarielle Beglaubigung nicht allzu abwegig. Zumal sie keinen Personalausweis vorweisen konnte. Und für den damals notwendigen Ariernachweis wurden durchaus alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen sicheren Nachweis bescheinigen zu können. Soweit so gut und als nicht so erfahrener Neuling in der Familienforschung habe ich hier auch keine weiteren Überlegungen angestellt.

Im Zuge meiner Beschäftigung mit den Jenischen stieß ich dann über die Website des  »Zentralrates der Jenischen in Deutschland e.V.« [1] auf einige Videos mit Beiträgen über das Leben und die Geschichte der Jenischen. In einem der Beiträge wurde auch das Thema »Nationalsozialismus und Euthanasie« angesprochen. Da fing mein Gehirn an zu rattern und ich begann, Zusammenhänge herzustellen, die ich so noch nicht gesehen hatte. Könnte Viktoria ein Opfer im Sinne der Rassenhygiene der Nazis gewesen sein?

Bei den ersten Recherchen im Internet stellte sich schnell heraus, dass die Landesfürsorgeanstalt Markgröningen, in der meine Großmutter untergebracht war, in den 1940er Jahren eine eher unrühmliche Geschichte hatte. Man kann sogar sagen, dass sie eine Vorreiterrolle in Sachen Euthanasie gespielt hat. Insbesondere ihre »Schwachsinnabteilung« war während der NS-Zeit von der  »Aktion T4« [3] betroffen. Dieser fielen in Grafeneck 120 Häftlinge zum Opfer. [2]

Unter den Opfern sollen auch Jenische gewesen sein. Aus den Transportlisten geht das nicht hervor, aber zum Glück habe ich auch keine anderen Verwandten auf der Liste gefunden. Und da Viktoria den Krieg überlebt hat, fällt sie auch aus dieser Liste heraus. Trotzdem könnte sie von der Praxis der Zwangssterilisation, die auch danach noch praktiziert wurde, betroffen gewesen sein. Genaueres konnte jedoch bisher nicht ermittelt werden, ebenso wenig wie der Grund für ihre Einweisung in die Anstalt. Es bleibt also vorerst offen, ob sie aufgrund ihrer Zuordnung zu den Jenischen, oder tatsächlich nur verwirrt oder dement war oder ob es einen anderen Grund gab, sie damals in die Landesfürsorgeanstalt einzuweisen.

Jedenfalls dürfte sie die Anstalt bis zu ihrem Tod 1950 nicht mehr für längere Zeit verlassen haben. Denn als Sterbeort ist Markgröningen angegeben. Sie muss aber zeitliche Ausgänge bekommen haben, denn bei der Hochzeit meiner Großmutter  Lotte Kastner und Großvaters  Erwin Karl Geiger 1943 in Stuttgart ist sie noch mit auf dem Hochzeitsfoto abgelichtet. Oder aber sie wurde erst danach eingeliefert. Ein Blick in die Patientenakte wäre hier wahrscheinlich Gold wert!

Auf jeden Fall kann ich sagen, dass die bisherige Reise und der Ausflug zu den Jenischen wirklich ein interessantes Kapitel meiner Familienforschung darstellt. Und hoffentlich werden wir in den nächsten Jahren noch weitere Details herausfinden. Ich bleibe auf jeden Fall dran …

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Fussnote:
1) Welche weiteren Besonderheiten vorliegen, kann man in den Artikeln Nr. 1-3 nachlesen!

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Bildnachweise:
[1] Eigene Sammlung

Quellen:
[1] »Zentralrat der Jenischen in Deutschland e.V.«,  https://zentralrat-jenische.de/ 
[2] AGD Markgröningen e.V., »Hurst: Von der Landarmenanstalt zum Stadtteil«,  https://www.agd-markgroeningen.de/?page_id=550
[3] Div. Autoren, »Aktion T4«, Stand 08.2024,  >https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4